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private viewing
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29.08.2020

Paul Albert Leitner

Ach! Was ich sah, fotografierte, fand, notierte und collagierte


Toni Kleinlercher

Daimona aus dem Koffer, eine literarische Kartografierung




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      Paul Albert Leitner, Installationsansicht, Foto © T.K.                                         Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.                        


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      Paul Albert Leitner, Installationsansicht, Foto © T.K.                                              Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.  


Essay zur Ausstellung PRIVATE VIEWING 07 von Wolfgang Koch

Time Capsules

ZEITKAPSEL LEITNER

Zeitkapsel Leitner

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Paul Albert Leitner, Installationsansicht, Foto © T.K.

Die aktuelle Ausstellungswand im Studio Kleinlercher ist eine Zeitkapsel, ein multimediales Dokument von Leitners Tätigkeiten, ein gefrorenes Bild seines Lebens im Verlauf des Erwachsenseins. Wie komplett das Bild ist, darauf kommt es nicht an: kein Bild ist ja jemals vollständig. Der Anthropologe Claude Levi-Strauss hat einmal gesagt: »Wenig Geschichte ist besser als gar keine«.

Die ganze Installation muss als eine Art Zeitkarte gelesen werden, auf der die Bewegungen eines menschlichen Wesens auf dem Planeten Erde in den Jahrzehnten rund um das Millennium verzeichnet sind. Was dieser Mensch ersehnt, studiert und dokumentiert hat, wie er die Kontinente bereist hat, was er auf den Strassen und in den Hotelzimmern vorgefunden hat, das schenkt den Forschern im Jahr 2298 zwar noch nicht ausreichend Material, um unsere Zivilisation gedanklich in ihrer ganzen Breite zu rekonstruieren. Aber die Forscher der Zukunft dürften beim Anblick von Leitners Wand ahnen, dass auf ihr Momente notiert sind, die Emotionswogen und Ereignisse festhalten, die ihnen selbst gar nicht mehr bekannt sind.

Leitner nennt seine Installation: »Ach, was ich sah, fotografierte, fand, notierte und collagierte«. – Achten Sie auf die Reihenfolge der Worte. Zuerst agiert das kalte Auge, dann arbeitet die sachliche Hand. Zuerst macht sich Leitner ein Bild im Kopf, dann in der Kamera, dann bückt er sich und liest Fundstücke vom Boden auf, er notiert Ort und Datum, am Ende setzt er mit viel Erfahrung Fotoabzug, Papierabfall und Paratext zu einem Memorial-Image zusammen, das an der Wand hängen oder in einer Vitrine liegen kann.

Bildermacher*innen sind Fetischist*innen; Leitner erhebt seine in der äusseren Welt erspürten inneren Bilder professionell zu Fetischen. Er beruft sich nicht auf die Unschuld des Fiktiven, das erscheint ihm unmöglich. Kriterium seines autobiografischen Fotografierens, des fetischistischen Sammelns und des nostalgischen Studierens ist die Signifikanz der Objekte. Kann das gelingen? – Durchaus; es gelingt prächtig. Im Spiel der Kunst wird ja nichts statisch festgehalten. Leitner legt sein Weltgemälde vollkommen unsensationell an, mittels eines quasi tautologischen Verfahrens, damit er der Präsenz der Dinge auf eine Weise nahekommt, in der sich die Frage nach Wahrheit oder Wirklichkeit von selbst aufhebt.

Die Installation besteht aus 25 Exponaten. Links oben die Collage Blue Moon (2016), zentral eine Weltkarte, die schon in Leitners Jugendzimmer baumelte, rechts oben Zeitungsseiten des Daily Telegraph mit Berichten über die Mondlandung 1969, dann noch weitere Karten, ein Verbotsschild aus London (»Do not cross«), ein Südamerika-Guide (1980) sowie diverse Fund- und Erinnerungstrophäen: ein Teppichklopfer, ein Spiegel, die Halterung einer Vorhangstange, das Express-Dampfstrahlgerät der Grossmutter mit der originalen Gebrauchsanweisung. Das Bügeleisen kostete 1954 umgerechnet 18 Euro, auf der Bügelsohle sind gut die drei Dampfaugen zu erkennen. Wir sehen von Leitners handwerklich geschicktem Vater gefertigte Rindertrophäen, einen Regenschirmständer, einen Souvenir-Elefanten aus Kalkutta, von wo der Künstler ein weiteres Mal als unbeugsamer Atheist heimgekehrt ist.

Als Modell für seine Installation dient dem Künstler eine SW-Fotografie. Sie zeigt den Salon eines Pariser Kunsthändlers, in dem u.a. das Gemälde »Fête des fleurs« von Henri Matisse (1923) an der Wand hängt. Was bitte hat der Blumenkorso von Nizza in einem bürgerlichen Repräsentationsraum mit Kuhhörnern auf der Wand in eines Wiener Zinshauses zu tun? – Nun,

Leitner denkt wie die Juden am Friedhof. Bei ihm steht immer die Nostalgie-These im Raum, dass das Erinnerte das Gelebte ist.


ZEITKAPSEL KLEINLERCHER

 

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Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.

Toni Kleinlercher stammt wie Leitner aus dem heiligen Land Tirol. Die Männer kennen einander seit ihrem jungen Erwachsenenleben. Sie besuchten gemeinsam Schottland und Auschwitz, sie teilen miteinander eine grosse Japan-Begeisterung und noch einiges andere, und sie wirken heute beide in Wien-Fünfhaus.

In PRIVAT VIEWING 07 antwortet Kleinlercher auf Leitners Zeitkapsel in grosser Gelassenheit mit einer eigenen Zeitkapsel. Praktischerweise ist das ein antiker Reisekoffer aus Kunstleder mit niedlichem Papierfutter im Inneren, in dem vom Künstler über Jahrzehnte sogenannte Bücher aufbewahrt wurden. 63 an der Zahl. Dieser Koffer ruht nun im Zeitalter der romantischen Selbstüberbelichtung, in dem die verlorenen Seelen in ihrer eigenen virtuellen Galerien eingesperrt sind, geduldig am Boden. Kleinlercher hat über den Koffer 63 Kopien von enthaltenen Titeln so elegant in einer strengen Reihung an der Wand arrangiert, dass man beinahe übersieht, wie er unsere Wahrnehmung hier manipuliert.

Die Buchtitel im Reiseutensil sind nicht gleich gross; das Bildformat entspricht nicht dem Buchformat. Die Bilder zeigen eigentlich auch keine Bücher, sondern nur die mehr oder weniger lauten Werbeumschläge der Werke. Dabei ist es Kleinlercher – im Unterschied zu Leitner – wichtig, bei der Anordnung der Bildtafeln gerade »keinem Ordnungsversuch zu erliegen«; die Auswahl folgt dem Zufall, die Titel hängen weder in alphabetischer noch in chronologischer Ordnung, weder nach Farben noch nach der Relevanz für ihren Besitzer gereiht. Die Erinnerungen an seine verflossenen Lektüren sollen frei von Strukturen flottieren können; die evozierten Inhalte kehren in verschiedenen Intensitäten zurück, fragmentarisch, bruchstückhaft, halbleserlich, wie von Ferne unter einem Schleier.

Jedes Leben endet ausnahmslos als Fragment, möchte man rufen. Ist das die Antwort auf Leitners anekdotische Selbstarchivierung? – Jede klassische Zeitkapsel ist ein Ordnungsversuch, der Gegenstände für unbekannten Adressaten zur Schau stellt, ein vergrabener Katalog des Wissens. Kleinlerchers »Coverpaintings« aber formuliert statt einem Katalog der Kofferbücher nur verschiedene Erinnerungsgrade an Lektüren und Besitztümer, die Arbeit eröffnet einen intensiven Assoziations- und Empfindungsraum, und die Empfindung läuft meiner Ansicht nach auf die »Intensitätsbeziehung« von Sachtrieb und Formtrieb hinaus, wie sie Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen während der Französischen Revolution 1793 untersucht hat. – Das Höchste, was die Erinnerung leisten kann, besteht nach Schiller in einem Schwanken zwischen diesen beiden Prinzipien, Form und Sache, wobei auf Kleinlerchers Wand bald die Realität des Buches, bald die Form des Umschlags überwiegt.

Das führt mich zu der Frage, die mich in den letzten Jahren stark beschäftigt, ob die ästhetische Anschauung und Gestaltung selbst ein Denken ist oder ob sie das Denken bloss illustriert. Sind Kleinlerchers bandagierten Titel Allegorien auf ein verletztes Lesen? Sind sie der symbolische Verweis auf ein Geschehen oder geschieht in der visuellen Darstellung selbst etwas?

Anders gefragt: Ist Kunst ein Denkmodus? Ist die bildende Kunst nur eine »angewandte Philosophie«, die Dinge erspürt, welche dem Bewusstsein unzugänglich sind? Sind ästhetische Vorgänge eine Anrede an die Gemüter und Geister, ein blosses »Entwicklungsmoment des Geistes« (Hegel) oder »Vorstadien der Erkenntnis« (Oswald Wiener), also ein Trainingslager des Denkens? Muss der Intellekt heran gezogen werden, um Kunst aus ihrem Hintergrund heraus zu interpretieren? Liegt die Bedeutung der Kunst in einer Hinterwelt, die erst vom diskursiven Geist in seiner vollen Dimension erschlossen werden kann? – Oder handelt es sich bei den korrespondieren Zeitkapseln um Anstrengungen, in einem bestimmten Bereich eine Äquivalenz aller anderen Bereiche zu verwirklichen? Handelt es sich bei der Kunst um eine Form des universalisierten Denkens, in dem wir zuweilen echtes Wissen über den Gegenstand erlangen, ohne dazu verdammt zu sein, nach Maßgabe des Auges oder nach Maßgabe der Sprache allein abzuwägen?

Wie Leitner und Kleinlercher diese Frage mit ihren in das All geschossenen Botschaften praktisch beantworten, das können Sie, bevor die Rotationskreisel der Welt aus der Verankerung springen, in aller Ruhe im Atelier betrachten.




www.toni-kleinlercher.com